2. Tag – Tornado und Thunderstorm

Früh am ersten Tag in der „wilderness“, wie Linda die Gegend um Willard genannt hatte, begrüßten uns ein strahlend blauer Himmel und über 30 Grad Hitze bei hoher Luftfeuchtigkeit. Wir machten uns frohen Mutes auf zu dem kleinen Restaurant, das zu unserem Willards Country Inn & Kitchen gehörte, um zu frühstücken. Und wunderten uns über die Betriebsamkeit, die dort herrschte. Jede Menge Leute waren zum Frühstück gekommen – und das waren keine Hotelgäste. Trucker, Leute aus der Nachbarschaft, Fabrikarbeiter – hier traf sich alles. In den USA machen sich die Leute nur ganz selten zu Hause ein Frühstück. Meistens gehen sie dafür aus. Und bei den günstigen Preisen wunderte mich das nicht. Schließlich konnte man hier für etwas mehr als drei Dollar (ein Dollar hat den Wert von etwa 80 Euro-Cent) ein komplettes Frühstück bekommen und Kaffee, soviel man wollte. Allerdings ist das amerikanische Frühstück nicht so ganz mein Ding. Für jemanden, der morgens am liebsten Joghurt und frische Früchte verspeist, sind Eier mit Speck, Bagels, Dougnuts, Pfannkuchen, Muffins und Frittiertes nicht gerade das Richtige. Und der Kaffee war auch kaum genießbar. Auf Nachfragen servierte man mir aber frische Melone, und mein Tag war gerettet. Trotzdem beschlossen wir, den nächsten Supermarkt anzusteuern und uns für die kommenden Tage mit „gesunden“ Frühstücksutensilien und vor allem mit starkem Kaffee einzudecken. Doch wir waren ja in der „wilderness“ gelandet. Bis zum nächsten Supermarkt mussten wir nach Newalk fahren – ein halbe Stunde entfernt. Newalk, so erfuhren wir, ist die Stadt, in der Thomas A. Edison geboren wurde. Auf unserem Weg sahen wir entlang der Straße nichts als ausgedehnte Kornfelder (Ohio ist die Kornkammer Amerikas), ab und zu einmal ein paar Häuser, jede Menge Kirchen verschiedener Religionsgemeinschaften und viele, viele Friedhöfe. Ich habe selten so viele Begräbnisstätten gesehen wie auf dieser Tour quer durch die USA. Im Gegensatz zu den unsrigen stehen in Amerika auf einer großen Wiese einzelne Grabsteine – Gräber nach unserem Verständnis gibt es nicht. Einzelne Steine sind mit der US-Flagge geschmückt, vor anderen steht eine Kerze oder ein Blumenstrauß. Die Kirchen sind klein (etwa die Größe eines Doppelhauses) und haben einen ein- bis zweistöckigen Turm. Vor jeder Kirche gibt es einen großen Parkplatz – die Menschen kommen offenbar alle mit dem Auto zur Messe. Die Häuser, die wir sahen, waren alle aus Holz gebaut und mit Kunststoff-Paneelen verkleidet. Jedes Haus hatte ein riesiges Grundstück mit einem sattgrünen, sehr gepflegten Rasen. Zäune sahen wir keine – die Grundstücke schienen ineinander über zu gehen. Bunte Blumen und Sträucher machten den gemütlichen Eindruck dieser kleinen Siedlungen perfekt. Entlang der Straße stehen die Briefkästen, so dass der Postbote aus dem Auto heraus die Post anliefern kann und nicht an jedem einzelnen Haus bis zur Eingangstür laufen muss. Newalk selbst entpuppte sich für die „wilderness“-Verhältnisse als „Großstadt“ mit einem Gewerbegebiet, das keine Wünsche offen ließ. Sogar einen Aldi-Markt gab es. Wir deckten uns bei Walmart mit allem Nötigen ein und machten noch einen kleinen Abstecher in einen Drugstore. Dort entdeckten wir dann das Geheimnis der vollendeten Bräune der jungen Amerikanerinnen. Die legen sich nämlich nicht in die Sonne (1. viel zu heiß dafür und 2. zu gefährlich – es könnte ja Hautkrebs geben). Die benutzen Permanent Tanning, ein Spray, das den ganzen Körper nahtlos und streifenfrei bräunt – bis zu sechs Wochen lang. Inzwischen gibt es in jeder Stadt auch „Body-Tanning“-Studios, in denen geschultes Personal den perfekt zum Typ passenden Braunton aussucht und die Kunden am ganzen Körper „braun spritzt“. Mal sehen, wie lange es dauert, bis das (genau wie die Kunstnägel) auch bei uns Trend ist… Sonnenstudios sieht man gar nicht mehr – die Menschen meiden die Sonne und halten sich lieber in klimatisierten Räumen oder im Schatten auf.
Auf der Rückfahrt entdeckten wir immer mehr Wolken am Himmel, und im Radio hörten wir erste Unwetter-Warnungen. Zurück im Motel, verstauten wir all unsere Vorräte, kochten uns einen starken Kaffee und verfolgten die Fußball-WM im Fernsehen. Draußen war es inzwischen recht stürmisch geworden – und drückend heiß. Und dann kamen die ersten Tornado-Warnungen im Fernsehen. Das laufende Programm wurde immer wieder durch Wettervorhersagen und Warnhinweise unterbrochen. Draußen war der Himmel inzwischen fast schwarz geworden, nur rundum am Rand waren helle Streifen zu sehen. Der Sturm legte zu, dann begann es zu blitzen und zu donnern, und dann regnete es wie aus Eimern. Innerhalb von Minuten war die Straße überflutet. Noch nie habe ich ein solch heftiges Gewitter und solche Regenmassen erlebt. Ständig waren Feuerwehr und Ambulanzen unterwegs. Drei Stunden lang toste der Thunderstorm, dann war schlagartig alles still. Die Straßen dampften in der Hitze, es wurde wieder heller am Himmel. Der Tornado hatte uns in Willard gottlob verschont, wir hatten es nur mit einem ausgewachsenen Thunderstorm zu tun. Später erfuhren wir, dass an diesem Nachmittag in Ohio sechs Menschen bei dem Tornado ums Leben gekommen sind…
Auch für die Nacht gab es wieder Unwetter-Warnungen, aber in Willard blieb es bei kleinen Gewittern.